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Was ist eigentlich dieses “Produkt”?

In Zeiten, in denen ganze Unternehmen sich danach ausrichten, getrieben von dem Wunsch bitteschön auch agil zu werden, rücken die „Ausrichtung am Kunden“, der „Fokus auf die Lieferfähigkeit“ und die „time to market“ in den Fokus. Von manchem Dach oder zumindest der Vorstandsetage darunter scheint es zu rufen: „Du sollst Dich nach dem Produkt organisieren!“ Aber was ist eigentlich dieses Produkt?

Entschuldigung, haben Sie die Produkte gesehen?

Interessant ist, dass bei einigen Unternehmen, die wir begleitet haben, die Frage nach den Produkten von Senior Vide President bis hin zum Team Lead unterschiedlich beantwortet wird! Frage ich sechs Personen, bekomme ich drei Antworten – mindestens.

Fast schon ausgleichend reden viele davon, dass die Organisation so oder so sein solle, nur gesehen hat diese Organisation wohl ebenfalls niemand. Nicht auf den Fluren, in den Kantinen und vermutlich noch weniger vor den heimischen Bildschirmen.

Aber weil der Erfolg eines Unternehmens wesentlich davon abhängt, wie und eben worauf es seine Aktivitäten fokussiert, ist die Frage nach dem Produkt so elementar. Ganze Unternehmen werden nach dem Produktportfolio organisiert, seine Bereiche danach ausgerichtet und Product Owner verantworten ihre Entwicklung. Das agile Arbeiten unterstreicht den Fokus auf die Frage „was ist ein Produkt?”

Darauf finden sich erstaunlich selten Erklärungen, die meisten bauen darauf auf, dass das schon irgendwie bekannt sei. Dabei kursiert die Idee der Produktorganisation nicht erst seit gestern.[1]
Mit dem Anspruch unsere Kunden von der ersten Idee zum Erfolg zu begleiten, begegnet uns diese Frage allerdings zwangsläufig häufig – und das ist gut so!

Theoretisch ist das Produkt klar.

In der wissenschaftlichen Literatur finden sich interessanterweise viele Definitionen aus dem Bereich Marketing.[2] Das Produkt ist demnach ein Bündel von Funktionalitäten, die einen Mehrwert für Kunden haben.[3]

Toll, oder? So einfach. Vielleicht bekommen wir da noch die Idee der Customer Journey rein gedrückt. Und fertig ist die Organisation. Oder doch nicht? Bei genauerem Nachdenken offenbart sich: Das kann nicht alles sein. Das ist nur die Kundensicht! Diese Definition erklärt noch nicht, wie das Produkt entsteht.


Auf der Suche nach einer alternativen Definition gibt das us-amerikanische Merriam-Webster-Wörterbuch einen prägnante Beschreibung: “[A product is] something that is made or grown to be sold or used“[4] Immerhin schon ein verstohlener Blick darauf, dass ein Produkt irgendwie entsteht. Auch im britischen Englisch geben das Oxford- und das Cambridge-Dictionary ähnliche Definitionen.[5] [6]
Das ist ganz toll, denn so können einfach alle Funktionalitäten fein säuberlich aufgeteilt werden und am Ende gibt es für jedes Produkt einen Unternehmensbereich, der richtet sich nach der Customer Journey aus und: fertig. Oder doch nicht?

Praktisch zeigt sich: Der Blick auf den Kunden ist nicht alles!

Der Kunde darf König sein, ganz klar. Auch weiterhin ist alles auf den Kunden ausgerichtet. Aber auf der Suche der Definition eines Produktes wird klar: Ganz allein regiert der Kunde nicht.

Denn die alleinige Definition des Produktes durch den Kunden und den für ihn interessanten Funktionalitäten beschreibt das Produkt nur vom Ende her. Und deswegen kann der Blick aus dieser Richtung nicht alles sein. Daher folgt nun notwendigerweise die zweite Blickrichtung, die der Organisation. Gedacht und entwickelt wird das Produkt nämlich aus der anderen Richtung.

Beide Perspektiven, die der Funktionalitäten und die der Entwicklung gehören zusammen!

Nur dann lässt sich die Frage „was ist ein Produkt?“ beantworten. Auf der Suche nach den Produkten, ein bisschen wie ein Detektiv, hilft es erstmal alles anzusehen, sich dann zurückzulehnen, tief durchzuatmen und dann das Stethoskop herauszuholen und vorsichtig hiernach nach diesen Merkmalen abzuklopfen:

1. Für das Produkt gibt es eine Vision.

Ganz am Anfang war die Idee. Egal wo diese Idee entsteht, ob unter der Dusche oder in der Büroküche, eine Produktidee ist überhaupt der Grund, warum es Produkte gibt. Es sind nicht die Kunden, es sind nicht die Strategien und eher auch nicht Innovationsprozesse. Natürlich können diese den kreativen Moment fördern, ihm aber ebenso im Wege stehen.
Es ist die Idee, die die Vorstellung anregt, eine Brücke zwischen der Gegenwart und der Zukunft schlägt. Es ist die Vision, die begeistert und mobilisiert.

2. Für das Produkt gibt es ein Geschäftsmodell.

Eine Produktvision zu haben ist rühmlich, aber unternehmerisch ohne Wert. Es braucht Antworten auf diese Fragen:

2.1 Ist das Produkt machbar?

Gibt es oder können Technologien, Expertise, Talent, Partnerschaften entwickelt werden?

2.2 Ist das Produkt praktikabel

Kann es technisch produziert werden, gibt es oder können Vertriebswege identifiziert werden, sind die Kosten tragbar (not-for-profit), und stehen diese höheren Einnahmen gegenüber (for-profit)?

2.3 Ist das Produkt dauerhaft

Kann das Produkt längerfristig erhalten, auch nach seiner Entwicklung gepflegt und können dem Kunden potenziell Leistungen nach dem Kauf angeboten werden?

3. Für das Produkt gibt es eine Wertschöpfung.

Ein Produkt muss -gegenüber der Alternative „kein Produkt“- einen Mehrwert anbieten. Und dieser Mehrwert muss irgendwie erarbeitet werden. Die wenigsten Produkte entstehen durch eine Person allein, daher kommt an dieser Stelle Zusammenarbeit ins Spiel. Zusammenarbeit wiederum sollte organisiert werden, um Ausrichtung, Entscheidung und Koordination zu verbessern.

Ohne diese drei Punkte gibt es kein Produkt: Gibt es nur die Vision, ist das Produkt nur eine Idee. Gibt es kein Geschäftsmodell, ist das Produkt nur eine Vision. Gibt es keine Wertschöpfung, ist das Produkt nur ein Plan.

So ergibt sich ein vollständiges Bild der Produktdefinition

Das Produkt ist natürlich auch mehr als Vision, Geschäftsmodell und Wertschöpfung. Und damit kommen wir wieder zum Anfang des Artikels: Ein Produkt muss immer auch einen Mehrwert für den Kunden bieten. Für diesen Mehrwert muss der Kunde etwas geben wollen.[7] Der Kunde gibt etwas dafür, wenn dafür Bedürfnisse erfüllt werden. Und Funktionalitäten wiederum sind bestenfalls so beschrieben, dass sie Bedürfnisse erfassen.

Ohne diese Punkte gibt es ebenfalls kein Produkt: Gibt es nur Funktionalitäten, trifft das Produkt nur zufällig Bedürfnisse. Sind nur Bedürfnisse bekannt, manifestiert sich daraus noch nicht die Person „Kunde“. Sind die Kunden bekannt aber die Nutzung nicht, kann ich nicht ihre Verbindung zum Produkt über die Zeit nachvollziehen.

Am Ende – tut mir leid, es an dieser Stelle zu offenbaren – gibt es nicht die eindeutige Definition. Ich frage mich immer noch, ob es das überhaupt geben kann. Für sachdienliche Hinweise bin ich überaus dankbar. So lange helfen diese Denkanstöße. Wirklich!

Zum Abschluss noch eine Preisfrage

Sollte der Kunde nun im Fokus stehen oder nicht?

Was denkst Du? Hau‘ Deine Antwort in einen Kommentar rein!

Unter allen, die eine Antwort auf die "Preisfrage" formulieren, verlosen wir einmal das Buch „Innovation Games“ von Luke Hohmann. Damit bekommst Du einen schönen Werkzeugkasten voller Methoden für Produktworkshops.

[1] https://hbr.org/1968/11/organizational-choice-product-vs-function

[2] Kotler, P., Armstrong, G., Brown, L., and Adam, S. (2006) Marketing, 7th Ed. Pearson Education Australia/Prentice Hall.

[3] Christian Homburg, Harley Krohmer: Marketingmanagement Strategie – Instrumente – Umsetzung – Unternehmensführung. 3. Auflage. Gabler Verlag, Wiesbaden 2009, ISBN 978-3-8349-1656-3, S. 536 Kapitel 11.1 Konzeptionelle Grundlagen der Produktpolitik

[4] https://www.merriam-webster.com/dictionary/product

[5] https://www.oxfordlearnersdictionaries.com/definition/english/product

[6] https://dictionary.cambridge.org/dictionary/english/product

[7] Das gilt auch im not-for-profit Bereich, denn es muss nicht Geld sein, das Menschen geben wollen.
Kunden können unter anderem Zeit und Aufmerksamkeit geben: Twitter oder LinkedIn zu nutzen, kostet kein Geld, nur…merkste selbst oder?

That’s what our readers think

  1. Ein toller Blogpost 👏🏼👏🏼👏🏼 Dazu hatten wir erst neulich eine Diskussion zum Thema “Kundenorientierung” – Existiert das Unternehmen wegen des Kunden, wäre das ähnlich der Analogie “lebt um zu atmen ;)”. Natürlich muss man atmen, um zu leben, aber lebt man wirklich nur aus diesem Grund?

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