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Priorisieren: das 1×1. Oder: Was ist gutes Priorisieren?

Dieser Artikel ist zu einem Teil überflüssig. Jede:r priorisiert, ständig. Das ganze Leben besteht aus Handlungen, die auf Abwägungen und Entscheidungen basieren. Morgens noch fünf Minuten schlafen? Zack, priorisiert. Wer nicht priorisiert, überlebt schlichtweg nicht. Nicht als Person und nicht als Spezies, respektive Organisation.

Warum gibt es dann so viel Diskussionen um Priorität? Und, dubioser und eklatant: Warum existieren Priorität 1, Priorität 1+, Priorität 1*, Priorität 1a? Gleichzeitig?


Die Wahrheit ist, es wird immer priorisiert. Ob priorisiert werden soll, steht nicht zur Frage; Nicht-priorisieren gibt es nicht.

Über das Wesen der Priorität

Priorisieren leitet sich vom lateinischen prior -der Vordere- ab. Priorität kann sich auf die Anordnung von Elementen beziehen und/oder auf eine zeitliche Abfolge von Ereignissen.

Prioritäten können ohne menschlichen Einfluss entstehen, Beispiel: Verbrannter Wasserstoff, bestehend zunächst aus zwei Wasserstoffatomen, die sich beide mit einem Sauerstoffatom verbinden. Die Priorität ist also Wasserstoff-Sauerstoff. Für alle, die sich fragen, was verbrannter Wasserstoff ist: H20 – Wasser. Spannend finde ich, warum die Atome Wasserstoff und Sauerstoff heißen, das führt uns aber weg vom Thema des Artikels, daher “ordne ich es nach hinten”.

Hej, ich habe soeben priorisiert!

Leider ist es mit dem Priorisieren selten so einfach. Wenn es wenigstens kompliziert wäre, dann könnte sich mensch nach Kopfzerbrechen auf eine genaue Reihenfolge einigen. Priorisierungen sind aber meist in komplexen Bedingungen notwendig.

Complexity characterises the behaviour of a system or model whose components interact in multiple ways and follow local rules, meaning there is no reasonable higher instruction to define the various possible interactions.

 Johnson, Steven (2001). Emergence: The Connected Lives of Ants, Brains, Cities. New York: Scribner. p. 19. ISBN 978-3411040742. From wikipedia.com, last assessed 2022-04-08

Bedeutet also, dass eine Ordnung geschaffen werden muss, obwohl nicht bekannt ist, wie das Zusammenspiel aller Elemente, Entscheidungen, Dynamiken ist. Das Ergebnis kann nicht vorher bestimmt werden, es kann mit Sicherheit Unvorhergesehenes geschehen.

Kommt Dir von Deiner Arbeit bekannt vor? Genau das macht Priorisieren schwierig. Und wichtig, weil eine gute Priorität den Unterschied macht.

Was ist eine gute Priorität?

Einfacher geschrieben, als getan. Was ist eine gute Priorität?

Eine Priorität, die…

eindeutig ist: Es gibt für die priorisierten Elemente eine eindeutige Reihenfolge.

den höchsten erwarteten Wert liefert: Nutzen (Wirkung), Aufwand und Risiko sollten einfliessen. Alle drei sind zu definieren, siehe Prinzip 1.

akzeptiert ist: Damit die Priorität beständig bleibt, sollte sie mit den Stakeholders, die Einfluss auf die Priorisierung haben, verhandelt sein, siehe Prinzip 3.

Dreieinhalb Prinzipien zur Priorisierung

Wie komme ich zu einer guten Priorität?

1. Priorisiere Alternativen, handle fokussiert.

Jede Entscheidung ist eine Trennung. Deswegen heisst sie ja so. Jede Entscheidung trennt die vielen Möglichkeiten und die Zukunft voneinander. Das liest sich so banal. Leider begegnen mir so häufig Situationen, in denen die Trennungsangst regiert.

Das Team hat 42 Storypoints (SP) gezogen, obwohl die Velocity zuletzt bei 37 SP lag? Das schaffen die schon! Der Agile Release Train hat eine Capacity von 450 SP aber einen Load von 491 SP? Muss fertig werden! Das sind echte Beispiele.

Die Idee, die dem teils zugrunde liegt, ist, dass alles machen, auch mehr Spielraum gibt. Und sich mehr vorzunehmen zu mehr fertiger Arbeit führt. Leider ist genau das Gegenteil der Fall. Je mehr Alternativen verfolgt werden, desto weniger werden fertig gestellt – mathematisch simpel und unwiderlegt durch Jason D. Little erklärt.

Hier ein eingängliches Video von Henrik Kniberg zum Thema:

Henrik Kniberg: Multiple WIP vs One Piece Flow

Die Alternative zu den Alternativen? Erstmal schön, dass die alle da sind! Je mehr, desto besser, sind schliesslich alles Ideen. Es sollte nur ein Vorgehen geben, die eine nächste auszuwählen.

Steve Jobs Rückkehr zu Apple hat mit einer radikalen Fokussierung des Produktportfolios begonnen, ein Grundstein für das Unternehmen das zu liefern, was es bisher geliefert hat.

I am as proud of what we don’t do as I am of what we do.
-Steve Jobs

https://www.goodreads.com/quotes/476123-i-m-as-proud-of-what-we-don-t-do-as-i; last assessed 2022-04-08

Die Alternativen sollten immer wieder geprüft und die wichtigsten priorisiert werden. Entgegen mancher Ansicht muss nicht jede Alternative priorisiert sein. Ein Backlog muss da priorisiert sein, wo es entscheidungsrelevant ist.

Copyright: Scaled Agile Institute. https://www.scaledagileframework.com/set-based-design/, last assessed 2022-04-08

Andererseits ergibt es wenig Sinn, Alternativen zu erstellen, die keine Wertung haben. Denn jede Alternative sollte eine Wirkung erzielen. Und die Priorisierung sollte nach erwarteter Wirkung erfolgen. Hier kannst Du mehr dazu lesen.

Wenn also möglichst viele Alternativen aufgenommen und diese dann priorisiert werden sollen, stellen sich zwei Fragen. Wie und wann? Zunächst folgt hier das Wann, im dritten Prinzip das Wie.

2. Priorisiere so spät wie möglich und so früh wie nötig.

Der Titel des Prinzips sagt es schon: Die Kunst liegt darin, eine Balance zu finden. Nicht zu früh zu priorisieren, wenn noch nicht die notwendigen Informationen da sind – und diese von “aussen” eingebracht werden – nur so, dass Entscheidungen, die zu Handlungen führen, getroffen werden können. Nicht zu spät priorisieren, um nicht Handlungen zu verzögern.

Die Zeit zwischen eindeutiger Priorität und Fertigstellung soll möglichst kurz sein. Diese Durchlaufzeit ist dafür entscheidend, dass Erwartung und Ergebnis nah beieinander liegen. Und damit sogar dafür, den Mehrwert von Priorisierung zu realisieren.

It is better to be roughly right than precisely wrong.
-John Maynard Keynes

https://www.goodreads.com/quotes/265041-it-is-better-to-be-roughly-right-than-precisely-wrong, last assessed 2022-04-08

Die Lösung?

Schätze Handlungsalternativen zunächst grob, aber häufiger. Erste Schätzungen können durchaus eine Magnitude von 50% haben. Konkret: Das Vorhaben kann laut erster Schätzung zwischen 7.5 und 12.5 Mio. EUR kosten. Die nächste Schätzung hat dann nur noch eine Magnitude von 30% und so fort, bis hin zu einer Schätzung, die eine Magnitude von 10% hat. Im Beispiel oben also 9.5 bis 10.5 Mio. EUR.

Also lieber schneller schätzen und schauen, ob die ersten Schätzwerte schon eine Priorisierung zulassen. Für den grösseren Teil der Entscheidungen vermutlich. Genauere Schätzungen dürfen aufwendiger werden.

Die Abweichung nimmt von Schätzung zu Schätzung ab, weil dazwischen Zeit vergeht. Zeit, die für Erkenntnisse genutzt werden kann. Zeit für Rückmeldungen, je besser, desto stärker nimmt die Abweichung zwischen erwarteten und tatsächlichen Wert ab. Die Abweichung wird in den seltenen Fällen null sein, daher ist es irgendwann auch mal gut mit dem Schätzen. Erfahrungsgemäss beginnt ab einer gewissen Anzahl von Durchläufen sogar eine Fluktuation um den Erwartungswert. Ganz einfach: Es wird zu viel geredet und zu wenig gemacht!

Diese Argumentation ist natürlich theoretisch. Wie gross die Abweichung war, ist nämlich erst hinterher feststellbar. Und wie genau so mancher tatsächlicher Aufwand gemessen werden kann…naja, das ist ein Thema für sich.

3. Priorisiere nachvollziehbar, passe das Vorgehen an.

Wenn Priorisierung nicht im luftleeren Raum statt findet, sondern in Organisationen, dann sollte sie nicht nur eindeutig sein, sondern auch akzeptiert.

Für Akzeptanz sorgt die Verhandelbarkeit, für Güte eine Priorisierung durch diejenigen, die die beste Expertise haben.

Den Produktwert sollten die ermitteln, die am besten die Kunden verstehen. Achtung, das heisst nicht unbedingt, dass die Kunden selbst das festlegen. Frei nach Henry Ford, hätten die Leute schnelleren Pferden den grössten Wert beigemessen. Jobs to be Done ist eine passende Technik.

Den Entwicklungsaufwand sollten die schätzen, die sich am besten mit der Umsetzung auskennen. Das müssen nicht nur die sein, die es tatsächlich umsetzen. Manchmal haben ausgerechnet diese Personen eine Wahrnehmungsverzerrung. Oder gleich mehrere.

Was es also für Priorität im unternehmerischen Kontext benötigt, ist ein Entscheidungsmodell, dass die entscheidenden (see what I did here?) Faktoren berücksichtigt.

Gibt’s da nicht was? Ja, klar:

The five key economic objectives are commonly used for sensitivity analysis. In: The Principles of Product Development Flow: Second Generation Lean Product Development. Donald G. Reinertsen. Celeritas, 2009, p. 30

Priorität bemisst sich demnach einer Kombination dieser fünf Argumente. Weighted Shortest Job First (WSJF) ist ein Schätzverfahren, welches diese fünf Argumente einbezieht. Dazu gibt’s nächstes Mal mehr zu lesen, ganz konkret. Dran bleiben, lohnt sich. Versprochen!

Die Schätzungen sollten relativ sein, das hat gleich mehrere Vorteile. Es geht schneller, gerade in Gruppen. Es ist genauer, gerade in Gruppen. Dummerweise fühlt es sich allerdings nicht so an. Für mehr Details zum relativen Schätzen verweise ich auf diesen kurzen, knackigen Artikel.

In jedem Falle sollten diese entscheidungsrelevanten Argumente unter all jenen, die auch unmittelbar Einfluss nehmen können, bekannt sein. Ein akzeptiertes Priorisierungsvorgehen gibt Sicherheit mit einer gefundenen Priorisierung fortzufahren, weil die Priorität nachvollziehbar wird. Gleichzeitig ermöglicht die Transparenz über das Vorgehen Kritik und damit Korrekturen und Verbesserungen.

Ob das Priorisierungsvorgehen passt, sollte daher von Zeit zu Zeit überprüft werden. Da gibt’s auch so ein Ritual für, Retro-irgendwas heisst das wohl.

31/2. Priorisiere mit Haltung

Das letzte halbe Kapitel bezieht sich auf den kritischen Faktor bei der Priorisierung. Den Menschen. Ach, wie einfach (und langweilig) wäre es ohne Menschen!

Entspann Dich, ist eh falsch. Die perfekte Priorität wirst Du nicht finden, hinterher weisst Du es besser. Es ist stets der aktuelle Stand des Irrtums.

Sei bereit zu verhandeln. Auf dem Weg zur guten Priorität solltest Du Rückmeldungen einholen. Sei bereit Deine Bewertung zu verändern. Dissens ist daher positiv: mehrere Menschen, mehrere Wahrnehmungen, mehrere Wertungen.

Sei bereit zu handeln. Irgendwann ist auch gut mit denken und reden. Der Nutzen jeder weiteren Untersuchung, der nächsten Schätzung, der neuen Erkenntnis nimmt tendenziell ab. Und Machen ist meist besser als Warten. Versuch’s mal mit Inkrementen, da priorisiert es sich gleich viel unbeschwerter.

Ein letztes Bonmot: Wer seine Handlungen nicht priorisiert, wird von den Ereignissen priorisiert.

Was ist Dein Trick für gutes Priorisieren?

Wie priorisierst Du? Worauf achtest Du? Was ist Deine Haltung?

Wie priorisiert Ihr in Deinem Bereich/Deinem Unternehmen?

Unter allen Kommentaren verlosen wir ein halbstündiges Fokuscoaching mit dem Autor!

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